Nein zu Selbstzensur

Dieser Text ist überwiegend von gestern, also „heute“ und „gestern“ bitte entsprechend lesen. Ich musste ihn erstmal sacken lassen, weil er mir gestern doch etwas wirr erschien.

Kapitel 1: Zensur

Türkisches Gericht sperrt Internetseiten lese ich heute auf tagesschau.de und versuche mir das vorzustellen. Sitzen die da vor ihren Laptops und programmieren DDos-Attacken? Ganz schön coole Socken diese türkischen Gerichte.

Und was haben die wohl so für Laptops? Sind es schicke MacBooks oder diese von Freaks benutzten hässlichen Linux-Kisten, bei denen der Deckel unter der Last von mehreren Schichten Aufklebern schon von selber nach unten sackt? (Das wäre dann doch nicht so cool.)

Und dann frage ich mich, seit wann das Internet eigentlich „Seiten“ hat. Ok, es ist wohl das World Wide Web gemeint. Geschenkt.

Was aber gar nicht lustig ist, sind zwei Dinge: 1. Wieso kann ein Gericht Defekte in die Kommunikations-Infrastruktur hineinverfügen, also Websperren verordnen? Wie geht sowas rechtlich? 2. Und wieso geht sowas technisch? Warum ist das überhaupt möglich?

Ich weiß noch, wie ich 2009 u.a. mehrmals in Berlin war, um wiederholt dagegen auf die Straße zu gehen, dass eine Zensurinfrastruktur, die sowas ermöglicht, in Deutschland eingeführt wird. Ich hätte jetzt gedacht, dass das geholfen hat und es nun weltweit gar keine Zensur mehr gibt. Was soll das jetzt also bedeuten, diese Meldung aus der Türkei? Das kann doch nur eine Ente sein?

Und 3.: Was ist das eigentlich für ein bescheuerter Grund?: Mit „Es wurde entschieden, den Zugang zu relevanten Sektionen von Internetseiten, die heute die Titelseite von ‚Charlie Hebdo‘ zeigen, zu blockieren“ gibt tagesschau.de nämlich in dem oben verlinkten Artikel eine Meldung „der amtlichen Nachrichtenagentur Anadolu“ weiter. Charlie?

Die Süddeutsche schreibt ebenfalls Internet-Sperre für „Charlie-Hebdo“-Titel in Türkei, was ungefähr genauso verständlich ist. Darf die heutige Ausgabe nicht über das Internet gehandelt werden? Nein, deren Anblick (?) soll in der Türkei (?) heute (?) nicht überall (?) zu sehen sein? So viele Fragezeichen kann man gar nicht setzen!

Kapitel 2: Je suis Charlie

Der Spiegel zitierte schon gestern in Erste Ausgabe nach Anschlag: „Charlie Hebdo“ erscheint mit Mohammed-Titel einen „Anwalt“ des Magazins mit „Der Geist von ‚Je suis Charlie‘, dem Slogan, mit dem seit Tagen Menschen weltweit für Meinungsfreiheit demonstrieren, bedeute auch ein ‚Recht auf Blasphemie'“. Für mich bringt es das auf den Punkt: Meinungsfreiheit muss ein Recht auf Blasphemie enthalten. Wenn ich „Je suis Charlie“ sage, meine ich genau das.

Ich tue das an dieser Stelle übrigens zum ersten Mal: Je suis Charlie. Meine einzige Äußerung bisher zu dem Thema war nämlich ein kommentarloser Retweet von https://twitter.com/markhurst/status/552857597393399808 , der ein komplett leeres weißes Blatt zeigt mit der Überschrift „Please enjoy this culturally, ethnically, religiously, and politically correct cartoon responsibly. Thank you.“. Die Aussage ist aber die gleiche: Satire muss Grenzen überschreiten dürfen.

Ich weiß nicht, worüber ich mich mehr aufregen soll: 1. Über die Menschen, die sagen, sie seien nicht Charlie, weil sie die Form oder den Inhalt dieses Magazins nicht immer gutheißen. Denn darum geht es nicht. Oder 2. über die Menschen, die behaupten, solche Satire würde Hass säen und sei auch nur eine Form des Terrors. Denn das ist maximaler Quatsch. Oder 3. über die Menschen, die sagen, Satire habe bei z.B. Blasphemie seine Grenze. Denn gerade das darf am wenigsten sein. Da bin ich ganz bei Salman Rushdie on Charlie Hebdo: freedom of speech can only be absolute: „Both John F Kennedy and Nelson Mandela use the same three-word phrase which in my mind says it all, which is, ‚Freedom is indivisible,'“ he said. „You can’t slice it up otherwise it ceases to be freedom. You can dislike Charlie Hedbo … But the fact that you dislike them has nothing to do with their right to speak.“

Aber nochmal zurück zum Thema Zensur (Kapitel 1 oben). Ich empfinde nicht nur Terrorismus wie den Anschlag in Paris als Gewalt, sondern auch solcherart Zensur wie in der Türkei. Und die auf eine gewisse Art sogar als schlimmer, weil nicht ausgehend von Terroristen, sondern von Gerichten oder Regierungen. Also liebes türkisches Gericht: Tolle Reaktion auf Paris, dieser Zensurakt. Damit hast Du den Anschlag von Paris (fast) noch getoppt.

Kapitel 3: Putin

Wie komme ich jetzt von Zensur und Terrorismus auf Putin? Vermutlich weil mich eine Sache dieser Tage noch mehr umtreibt als Paris (wie man auch an meinem Tweet sehen konnte: „Lese was über #Fahrverbot und #Russland. Bin zu schockiert, das zu verlinken. Fast jeder – auch ich – dürfte demnach dort nicht mehr fahren“):

„Der Kampf gegen Homosexualität und nicht normiertes Sexualverhalten ist ein ideologischer Grundstein des Kreml seit Wladimir Putin 2012 an die Macht zurückkehrte. Das Schüren von Hass gegen Minderheiten ist Teil der Staatsdoktrin.“ schrieb die taz letzte Woche in Fahrverbot für Transvestiten. „Schon der Besitz von Handschellen außerhalb der staatlichen Sicherheitsorgane könnte als Zeichen sexueller Abweichung gewertet werden, fürchteten Nutzer sozialer Medien“ und „Die Organisation ‚Rusadvocat‘, eine Assoziation von russischen Menschenrechtsanwälten, gab zu bedenken, dass bereits ein Besuch und Einkauf in einem Sexshop zum Verlust der Fahrerlaubnis führen könnte“ heißt es in dem Artikel weiter.

Liest man den Artikel genauer, so sind doch recht viele Mutmaßungen, Konjunktive und Behauptungen drin, aber die Grundaussage ist sicher richtig, dass es hier nicht um Verkehrssicherheit geht. Denn solche Berichte über Russland und vor allen Dingen Putin gibt es seit Jahren. In der Wikipedia findet man z.B. in Homosexualität in Russland den Satz „Am 30. Juni 2013 unterzeichnete Präsident Wladimir Putin ein Gesetz auf föderaler Ebene, das jegliche positiven Äußerungen über Homosexualität in Anwesenheit von Minderjährigen oder über Medien wie das Internet unter Strafe stellt“. Auch mit der Wikipedia muss man vorsichtig sein, aber ein Bericht im Stern ging bereits 2012 sogar noch weiter und schrieb „Liberale Kräfte und Menschenrechtler in Russland sind in Aufruhr: Öffentliches Reden über Homosexualität soll künftig überall im Land der Erde unter Strafe gestellt werden […] Laut dem Gesetzentwurf soll auch die Aufklärung über Homo-, Bi- und Transsexualität mit Geldstrafen geahndet werden“.

Ich will gar nicht auf Putin selber herumhacken, sondern auf was anderes hinaus: Es sind Beispiele für staatliche Repressalien — in diesem Beispiel Fahrverbot und Geldstrafen — gegen die eigenen Bürger. Und sie führen zu Verhaltenseinschränkungen… und Selbstzensur bei der Diskussion über normale Themen wie z.B. Sexualität. Genauso wie Terroranschläge, die offenkundig religiös motiviert sind, zu Selbstzensur beim Thema Religion führen.

Ich möchte dazu aufrufen, an genau dieser Stelle anzusetzen: Lasst uns gerade die Themen hochhalten, die andere uns nehmen wollen. Wir finden die wichtigsten dieser Themen ganz leicht: Es sind genau die, bei denen wir versucht sind, uns selbst zu zensieren.

Nein zu Selbstzensur! In vollem Bewusstsein der möglichen Konsequenzen!

Kapitel 4: Das wird man doch wohl noch sagen dürfen

Sorry, aber DAS meinte ich gerade NICHT.

#nopegida

Kapitel 5: Nochmal Charlie

Ich freue mich über ein Software-Update, das ebenfalls heute kam: Die „‚Je suis Charlie‘ edition“ des Texteditors Notepad++ (mit dem ich dies schreibe). Nach der Installation geht ein Fenster auf, in dem der Autor langsam tippt: „Freedom of expression is like the air we breathe, we don’t feel it, until people take it away from us. For this reason, Je suis Charlie, not because I endorse everything they published, but because I cherish the right to speak out freely without risk even when it offends others.“. Genau darum geht es: The right to offend others.

‚Nuff said.

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Eine Antwort zu Nein zu Selbstzensur

  1. donkeykong schreibt:

    Kennst Du Ipernity? Deine Texte gehören auch auf Ipernity veröffentlicht. Copy& Paste.

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